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Baader war zu keinem Zeitpunkt an unzulässigen Experimenten am Menschen beteiligt.
Nachweisbar ist, dass – während seiner kriegsbedingten Abwesenheit – von seinem Stellvertreter ein bis heute zugelassenes Vitaminpräparat ohne die dafür schon damals formell erforderliche Einwilligung der Patienten in einem Arbeitslager verabreicht wurde, und dass über diese Anwendung eine Fachpublikation erschien. Dies war damals leider trotz entgegenstehender Rechtslage verbreitete Praxis. Baader persönlich zuzurechnen ist sie freilich nicht: Sein Name wird auf der entsprechenden Fachpublikation nicht als Autor oder Co-Autor, sondern lediglich als (zumal faktisch abwesender) Leiter des Universitätsinstituts benannt.
"E. W. Baader, der ab Mai 1940 als Militärarzt und Beratender Internist in Belgien und Frankreich tätig war und demzufolge nicht mehr regelmäßig in Berlin sein konnte, übertrug in seiner Abwesenheit die Führung der an das Institut angegliederten Poliklinik seinem langjährigen Assistenten Otto Schulz. Mit der kommissarischen Institutsleitung beauftragte er jedoch Paul Rössing, der in der Folgezeit seinen Chef auch als Universitätsdozent für Berufskrankheiten vertrat. Rössing kann als gleichermaßen selbstbewusster wie loyaler Stellvertreter Baaders bezeichnet werden. So fand er offensichtlich durchaus Gefallen an der neuen Rolle als Leiter und Repräsentant des Universitätsinstituts für Berufskrankheiten.“[1]
Die von Leven mittelbar E. W. Baader unterstellte Beteiligung an „Menschenversuchen“ in einem in der Nähe des Berliner Instituts gelegenen Lagers von Zwangsarbeitern, ist in gewohnter Weise höchst tendenziös dargestellt.
In der Sache gelang es Leven weder Baader noch Rössing Menschenrechtsverletzungen in irgendeiner Weise nachzuweisen. Der Tatvorwurf geht dahin, dass Rössing bei der Vergabe des Medikamentes Nicobion an Zwangsarbeitern möglicherweise das „Rundschreiben des Reichsministers des Inneren, betr. Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen. Vom 28. Februar 1931“[2] nicht beachtet haben könnte, da möglicherweise eine Aufklärung der Probanden unterblieb. Leven räumt aber selbst ein, dass diese Richtlinien – analog zu den am 29.12.1900 vom preußischen Kultusministerium erlassenen „Richtlinien über wissenschaftliche Experimente“ – in der Rechtspraxis ohnehin wenig beachtet und im Dritten Reich selten erwähnt wurden.[3]
Allerdings – so Leven weiter – „kamen sie während des Nürnberger Ärzteprozesses im ‚Nürnberger Kodex’, der Teil der Urteilsbegründung war, in verkürzter Form wieder zum Vorschein. Ein Sachverständiger des Prozesses, der emigrierte österreichische Psychiater Leo Alexander (1905-1985), maßgeblich beteiligt an der Formulierung des ‚Nürnberger Kodex’, bezog sich ausdrücklich auf die Richtlinien von 1931. Hatten die Richtlinien Humanexperimente und Heilversuche geregelt, so ging der Nürnberger Kodex eine Stufe zurück und zielte lediglich auf Humanexperimente – die Überschrift des Kodex lautete ‚Permissible Experiments with Humans’. Sämtliche hier erwähnten ethischen Kodizies – die ‚Anweisungen von 1900’, die Richtlinien von 1931, der ‚Nürnberger Kodex’ verfehlten ihr unmittelbares Ziel. Sie wurden stets erst rückschauend in ihrer Bedeutung erkannt. In der jeweils zeitgenössischen medizinischen Forschung und Praxis wurden sie weitgehend ignoriert. Die differenzierten ‚Richtlinien’ von 1931 verhinderten nicht die medizinischen Verbrechen der NS-Medizin. Der ‚Nürnberger Kodex’ von 1947 verhinderte nicht, dass in den USA ethisch fragwürdige Menschenversuche stattfanden. So wurden im Zuge der ‚Tuskegee Syphilis Study’ nahezu 400 an Syphilis leidende schwarze Amerikaner in Alabama von 1932 bis 1972 medizinisch beobachtet, ohne dass man sie aufgeklärt oder therapiert hätte, selbst als die höchst wirkungsvolle Penicillin-Behandlung zur Verfügung stand.“[4]
Um was geht es also? Rössing als Institutsverweser des Instituts von Baader behandelte – in Abwesenheit Baaders – Zwangsarbeiter mit einem Medikament, das noch heute bei Mangelerscheinungen verordnet wird.
Völlig unstrittig ist, dass die zur Stützung des nationalsozialistischen Wirtschaftsgetriebes, insbesondere zur Förderung der Kriegsindustrie eingesetzten Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen lebten.
Das auch heute noch von der Fa. Merck vertriebene Medikament Nicobion enthält den Inhaltsstoff Nicotinamid. Dieser stellt einen Stoff der Vitamin-B-Gruppe dar, wobei man bekanntermaßen unter der Sammelbezeichnung ‚Niacin’ Nicotinsäure und Nicotinamid zusammenfasst. Wie alle Vitamine des B-Komplexes erfüllt Nicotinamid eine wichtige Rolle im Stoffwechselgeschehen: Als Baustein von NAD und NADP (Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat) wirkt es an vielen Stoffwechselreaktionen mit - dabei fungiert es als Überträgerstoff von Wasserstoffionen. Nicotinamid ist – wie wir wissen – am Auf- und Abbau von Kohlenhydraten, Fettsäuren und Aminosäuren beteiligt. Nicobion war damals und ist auch heute noch ein sehr wirksames Medikament zur Linderung der Nebenwirkung von exzessiven Mangelerkrankungen; es ist also keine schädigende Substanz, sondern ein durchaus heilender Wirkstoff.
Paul Rössings Testreihe mit dem Wirkstoff Nicobion war – wie Leven richtig schreibt – indessen nicht neu. Bereits 1943 wies er in einer zahnmedizinischen Fachzeitschrift bereits auf die Behandlungserfolge bei Zahnfleischerkrankungen mit Nikotinsäureamid hin.
Die in diesem Zusammenhang von Paul Rössing, dem Assistenten Baaders, (in Abwesenheit Baaders) durchgeführten medizinischen Versuche, mit Nicobion zu behandeln, mögen angesichts der Nicht-Beachtung des „Rundschreibens des Reichsministers des Innern betr. Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen vom 28.2.1931“ verfehlt gewesen sein; für Rössing (und letztlich für die medizinische Fachwelt) stellten sie jedenfalls keine neuen Versuche dar.
Die in diesem Zusammenhang konstruierte These, die Linderung der Schmerzen der eingesetzten Zwangsarbeiter dienten der Förderung der Kriegswirtschaft, mag dahingestellt bleiben; Vitaminforschung war aber auch – wie Leven ja richtig schreibt – ein Ziel pharmakologischer und ärztlicher Forschung jener Zeit.
Dass Rössing die Verpflichtung von 1931, nämlich Versuche an Menschen ohne deren Zustimmung zu unterlassen, missachtete, mag nicht recht nachvollziehbar sein. Angesichts der seit Kriegsende eingetretenen geschichtswissenschaftlichen Forschung über die Zeit ist bewiesen, dass Ciceros Weisheit „inter arma enim silent leges“ mehr denn je auf das nationalsozialistische Unrechtsregime zutraf.
Unstrittig ist – wie ja in diesem Zusammenhang Leven allerdings richtig darstellt – dass Baader zu dem Zeitpunkt als sein Institutsverweser Rössing die Versuche durchführen ließ – viele hundert Kilometer entfernt, nämlich als beratender Arzt der Wehrmacht in Belgien tätig war. Die Einbindung Baaders wird unterstellt und ausschließlich abgeleitet durch die oben zitierte Unterzeile der von Rössing veranlassten wissenschaftlichen Darstellung in der Klinischen Wochenschrift 1944. Inwieweit Baader von den Versuchen, die Rössing mit dem Medikament Nicobion durchführte, im Vorfeld positive Kenntnis erlangte, darf indessen als fraglich gelten; hier muss auf die Vernichtung der seinerzeitigen urkundlichen Quellen und des gesamten Instituts durch kriegsbedingte Bombeneinwirkung abgehoben werden.
Der Vorwurf, Baader hätte an Zwangsarbeitern medizinische Versuche getätigt, geht völlig ins Leere. Baader war zu dem Tatvorwurf gar nicht in Berlin, sondern sein Institutsverweser Paul Rössing war ursächlich für die heute nun als „Menschenversuche“ bezeichnete Vergabe eines noch gegenwärtig im Umlauf befindlichen Heilmittels.
„Trotz intensiver Archivrecherchen war es nicht möglich, die hier beschriebenen Versuche Rössings lückenlos zu dokumentieren. So wäre zum einen nach den Vorbereitungen und Planungen zu fragen und auch danach, welche anderen Institutionen noch in diese Menschenversuche involviert waren. Welche Rolle spielten Lagerleitung, Pharmafirmen oder Forschungsfördereinrichtungen bei der Realisierung der Nicotinsäureamit-Experimente? Die Fragen bleiben infolge der prekären Quellenlage unbeantwortet. Die Unterlagen, Gutachten, Krankenakten des Baaderschen Universitätsinstituts wurden während des Zweiten Weltkrieges durch Bombenangriffe zerstört. Der Versuch wiederum, über die Pharmafirma Merck, von der Baaders Instituts das Nicobeion bezog, weitere Details über die Experimente zu erhalten, war nicht von Erfolg gekrönt. Auch hier scheiterte das Unterfangen an der Quellenlage im Merck´schen Firmenarchiv. Des Weiteren ist es in Anbetracht von bis zu 400.000 Zwangsarbeitern und sicherlich weit über hundert ‚Ostarbeiterlagern’ nahezu unmöglich, zu lokalisieren, in welchem Berliner Zwangsarbeiterlager die Versuche durchgeführt wurden. Zwar kann man davon ausgehen, dass sich die Experimentatoren ein Lager in der Nähe aussuchten – warum hätten sie ein fern gelegenes wählen sollen? – doch gab es hierfür in Neukölln mehrere Optionen. Allein in der unmittelbaren Nachbarschaft des Universitätsinstituts für Berufskrankheiten, d.h. in der Rudower-Straße, existierten vier verschiedene ‚Ostarbeiterlager’ und sogar auf dem Gelände des Neuköllner Krankenhauses war ein kleines Zwangsarbeiterlager errichtet worden. Da von diesen Einrichtungen jedoch bis auf vereinzelte Fundstücke keinerlei Quellen mehr existieren, muss letztlich offen bleiben, in welchem der ‚Ostarbeiterlager’ die Versuche stattfanden.“ [5]
Paul Rössing hat als Institutsverweser Zwangsarbeitern Medikamente verordnet, die auch heute noch im Handel sind. Darüber hat Paul Rössing eine wissenschaftliche Arbeit verfasst. Die Einbindung Baaders wird unterstellt und ausschließlich abgeleitet durch eine dazu nichts beitragende Unterzeile der von Rössing veranlassten wissenschaftlichen Darstellung in der Klinischen Wochenschrift 1944, S. 330, in der Baader in keinen persönlichen Zusammenhang zur Studie gestellt wird.
Die eigene Einlassung, dass die Richtlinien seinerzeit vornehmlich nicht beachtet wurden, ein völlig vager Tatvorwurf, eine nicht nur eine löchrige Beweiskette, sondern überhaupt mangelnde Beweise und als krönender Abschluss, die faktische Abwesenheit von Baader schrecken aber nicht ab, Baader als Schuldigen darzustellen. Ein Muss – denn es kann nicht sein, was nicht sein darf:
„Bezüglich der Rolle E. W. Baaders ist es unerheblich, welcher Geldgeber die Versuchsreihe an den sowjetischen Zwangsarbeitern finanzierte. Und unabhängig von der Tatsache, dass sein Assistent Rössing sie durchführte, bleibt hinsichtlich dieser Menschenversuche ein schwer wiegender Befund: Baader machte sich als verantwortlicher Leiter seiner Klinik einer eklatanten medizinethischen Grenzüberscheitung, der Verletzung der ‚Richtlinien’ von 1931 schuldig. Die Menschenversuche firmierten unter der Adrese seines Forschungsinstitus und wurden auch unter seinem Namen veröffentlicht.“
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